im
Raum
des
Wissens


Weg 6

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Gestalten vervielfältigen sich



Gestalten sind die feststehenden Formen, Gesetze usw., die das ausmachen, was wir „Wissen“ nennen. Wesentliches Merkmal des Wissens ist seine Beständigkeit. Es bildet damit den Gegenpol zu Aktivität, die verändert. Beides gehört zusammen und immer treten beide Prinzipe zusammen auf. Es genügt nicht, dass eine Gestalt irgendwann einmal erzeugt wird. Die sie hervorrufenden Aktivitäten müssen dort und dann stattfinden, wo und wann (und wie lange) sie erscheint. Ständige Vervielfältigung ihrer selbst ist der Schlüssel zu ihrer Beständigkeit, ihrer Existenz.

Wie wichtig Reproduktion für Wissen ist, sehen wir in den Wissenschaften. Deren Beobachtungen müssen nachvollziehbar sein. Nur dann hat etwas Bedeutung, wenn es sich wiederholt ereignet. Nur Regelmäßiges ist Gesetz.

Schon der Vorgang des Messens bleibt stets gleich und braucht wiederholtes Auftreten immer desselben Ereignisses. Es wird dabei registriert und gegebenenfalls gezählt. Zählen selbst ist ständiges Wiederholen des Prozesses der Addition der Eins. Daraus entwickeln sich Skalen und Messgeräte. Ideen wie Linearität und Dimensionen des Raumes gehen darauf zurück.

Und nicht zuletzt der physikalische Begriff der „Zeit“ fußt in ununterbrochener Wiederholung eines gleich bleibenden Ereignisses, einer wieder und wieder reproduzierten Gestalt. Diese Zeit-Gestalt wird gerne zu allem anderen in Beziehung gesetzt: allem wird ohne Bedenken ein zeitlicher Verlauf zugeschrieben, jedes Ereignis in der Regel in Bezug zu jenem, wie auch immer gearteten, elementaren Zeit-Ereignis definiert. Nichts scheint jenseits der Sphäre der Zeit unserer Uhren existieren zu können.

Aber der Raum des Wissens beherbergt noch unendlich viele andere Gestalten in deren Sphären. Das wird ermöglicht durch die Dimension des Wissens. Ausdehnung in ihr ist Gestaltung. Durch Interaktion. Aktivität ist nicht gebunden an Wechselwirkung mit einer vermeintlich universellen Sphäre der Zeit. Eine solche Bindung wäre eine Beschränkung, die viele Differenzierungen ausschlösse – und, auf die Spitze getrieben, alle Gestalten zerstörte. Denn wenn diese ausschließlich in Relation zur Zeit gesehen, also zeitlich definiert oder analysiert werden, dann verlieren sie das Wichtigste: ihre Einfachheit. Zurück bleiben komplexe Strukturen, voller Widersprüche und sehr fremd.

Die Einheitsgestalt, die als Maß für alles andere gelten soll, führt zu Form- und Maßlosigkeit. Sie gibt niemandem Halt. Das Gebäude, das daraus errichtet wird und alles umfassen soll, bietet keine Geborgenheit: es passt hinten und vorne nicht zusammen, überall klaffen Lücken, und sein Einsturz ist vorprogrammiert.

Die Beziehungen zu anderem konstituieren jede Gestalt. Nur in ihren Interaktionen kann sie wirken. Deshalb muss sie sich immer wieder konstituieren, sich vervielfältigen.

Diesem Prozess sind keine Grenzen gesetzt. Aber nicht jede Umgebung ist gleichermaßen geeignet, die betreffende Gestalt erscheinen zu lassen. Das hängt ab von aktuellen Aktivitäten und deren strukturellen Verknüpfungen. Ein gewisses Maß an harmonischer Resonanz muss vorhanden sein. Dann werden eventuell fehlende Aktivitäten ergänzt. Und die Gestalt erscheint als Ganzes.

Beim Prozess der Reproduktion kann es durchaus zu Abweichungen kommen. Neue Gestalten entstehen so. Oder Strukturen, die zu wenig inneren Zusammenhalt haben, um sich als Ganze zu reproduzieren. Die keine Einheit bilden und deshalb nicht als Gestalten erscheinen.

Um Abweichungen oder Unterschiede feststellen zu können, bedarf es eines Maßes. Eine passende Dimension muss vorhanden sein, in der die entsprechenden Differenzierungen vorgenommen werden können. Ohne diese ließe sich nicht mal von „Vervielfältigung“ reden.

So ist Vervielfältigung die Ausbreitung oder Bewegung der Gestalt in der für sie charakteristischen Dimension. Alle möglichen Dimensionen aber lassen sich zusammenfassen in der Dimension des Wissens, die den Raum des Wissens ausmisst. Sie ist die Essenz aller Vervielfältigungen aller Gestalten. Sie vereinigt, was sie trennt.